Ein Tabu des Sozialstaats fällt

„Es gibt in Europa ein Recht auf Zuwanderung in Arbeit, aber kein Recht auf Zuwanderung in Sozialsysteme ohne Arbeit.“ Wem ein solcher Satz einfällt, der kann nur ein  deutscher Afd-Politiker oder ein „ausländerfeindlicher“ FPÖ-Bürgermeister aus Oberösterreich sein – möchte man meinen. Gesagt hat ihn aber der Vorsitzende und mögliche nächste Kanzlerkandidat der deutschen Sozialdemokraten, Sigmar Gabriel. „Wenn ein Kind nicht bei uns lebt, sondern in seinem Heimatland, dann sollte auch das Kindergeld auf dem Niveau des Heimatlandes ausgezahlt werden“, meinte der Wirtschaftsminister und Vizekanzler.

EU-Ausländer haben für die Dauer ihres Arbeitsaufenthaltes in einem  anderen EU-Land Anspruch auf Kindergeld – auch wenn der Nachwuchs daheim im Herkunftsland lebt. Rund 120.000 im Ausland lebende Kinder, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, beziehen danach Kindergeld aus Deutschland. Knapp zur Hälfte waren es Polen, gefolgt von Franzosen (!), Rumänen, Tschechen und Ungarn.

Eine Kürzung könnte Einsparungen von bis zu 100 Millionen Euro bringen.

Die Liste für Österreich wird ebenfalls angeführt von Polen, gefolgt von Deutschen, Slowaken  und Rumänen. Nach Angaben von Familienministerin Sophie Karmasin fließen unter diesem Titel pro Jahr aus diesem Titel rund 250 Millionen Euro ins Ausland.Eine Kürzung könnte Einsparungen von bis zu 100 Millionen Euro bringen, rechnet die Ministerin. Dass die mögliche Ersparnis weniger als die Hälfte der Gesamtsumme ausmacht, liegt daran, dass bei uns die Deutschen eine so Anteil haben.

So schnell fällt ein Tabu des Sozialstaates

Es ist erstaunlich, wie schnell wieder ein  Tabu des Sozialstaates fällt. In der Polemik von Grünen, Caritas und anderen kirchlichen Kreisen kommt das nur daher, dass sich ÖVP und SPÖ den Wählern der Freiheitlichen anbiedern wollten. Die ÖVP ist dann nicht mehr christlich-sozial, die SPÖ verleugnet ihr  soziales Gedankengut und beiden wollten die FPÖ „rechts überholen“. Die Idee, dass es vielleicht eine sachliche Begründung dafür geben könnte, nicht mit deutschen oder österreichischen Kinderbeihilfen in Rumänien eine ganze Familie zu finanzieren, kommt ihnen nicht. Die EU ist aus gutem Grund keine „Sozialunion“ und kann es auch nicht werden, solange die Leistungsfähigkeit der Ökonomien und die Leistungswilligkeit der Bevölkerungen so unterschiedlich sind wie sie sind.

Die politische Forderung Gabriels

Gabriel illustrierte seine politische Forderung mit einer Schilderung aus dem praktischen Leben:  Es gebe in manchen deutschen Großstädten ganze Straßenzüge mit Schrottimmobilien, in denen Migranten nur aus einem Grund wohnten: „Weil sie für ihre Kinder, die gar nicht in Deutschland leben, Kindergeld auf deutschem Niveau beziehen wollen.“ Dies entspreche zwar der derzeitigen Rechtslage in der EU, müsse aber geändert werden, verlangt  Gabriel.

Damit wird ein wichtiges Argument gegen eine Änderung, das auch von Sybille Hamann in der „Presse“ vorgebracht wird, entkräftet. Sie plädiert nämlich dafür, statt das Kindergeld ins Ausland zu schicken, die Kinder nach Österreich zu holen. Nur: Warum haben das  die  Eltern nicht schon bisher getan? Niemand hätte sie daran hindern können. Offensichtlich betrachten sie das Kindergeld, das sie in Österreich oder Deutschland zur Gänze für ihre Kinder ausgeben müssten, halt doch als zusätzliche Einnahmsquelle in der Heimat. Vielleicht auch für die Erhaltung der Großeltern oder des Wohnsitzes in der Heimat?

Verärgerung bei Sozialminister Alois Stöger

Die derzeitige Rechtslage und Praxis ist von der EU-Kommission gegenüber Österreich bekanntlich ausdrücklich bestätigt worden. Karmasin hat angekündigt,  das nicht akzeptieren zu wollen und dagegen vorzugehen. Sozialminister Alois Stöger ist verärgert, weil ihm die Konkurrentin von der ÖVP ein Problem der Sozialpolitik aus der Hand genommen hat, das eigentlich er hätte aufgreifen können oder müssen. Dazu ist er aber ideologisch zu festgefahren. Im Denken der SPÖ dürfen Sozialleistungen, wenn man sie einmal hat, nicht verändert, korrigiert, gekürzt oder gar entzogen werden, denn das wäre “Sozialabbau“ – was es auch tatsächlich ist.

Stöger hat aber schon verloren.

Stöger windet sich dementsprechend: Wenn man die Idee „radikal durchdenkt“, gebe es auch Fälle, wo mehr zu zahlen sei. Man könne die Frage „diskutieren“, müsse sich „die Sache aber genau anschauen“. Aber er hat schon verloren, denn Christian Kern ist derselben Meinung wie Gabriel, Karmasin und  Sebastian Kurz, der die Sache für Österreich aufgebracht hat, nachdem der Europäische Rat im Februar Großbritannien wegen des damals noch bevorstehenden Referendums über den EU-Austritt grünes Licht für eine Indexierung der Familienbeihilfen gegeben hatte.

Die Kommission wird einlenken.

Karmasin steht aber nicht allein dagegen: Nach dem Vorstoß Gabriels wird nun auch Deutschland das Kindergeld für EU-Ausländer an die oftmals niedrigeren Lebenshaltungskosten in deren Heimatländern anpassen, wie es die große Koalition in Berlin schon im Februar beschlossen hat.  Dann wird die Kommission einlenken, wie man sie kennt.