Gibt es in Österreich nun einen Ärztemangel, oder nicht?

Beitrag von Köksal Baltaci. Geboren und aufgewachsen im Tiroler Unterland, seit 2011 Redakteur der „Presse“ mit Gesundheits- und Medizinthemen als Schwerpunkt.

 

Trotz zweithöchster Ärztedichte Europas fordert die Ärztekammer derzeit mindestens 300 neue Spitalsposten. Dazu sollte man ein paar Dinge wissen.

Wo soll man nur anfangen? Bei den fehlenden Kinderärzten? Gynäkologen? Psychiatern? Landärzten? Ob bei niedergelassenen Medizinern oder Spitalspersonal – der Ärztemangel in Österreich gehört seit Jahren zu den dominierenden Themen der öffentlichen Debatte, regelmäßig befeuert durch Schlagzeilen auf den Titelseiten der größten Zeitungen. Mit nicht zu leugnenden Auswirkungen auf Patienten wie etwa überfüllten Ordinationen und Krankenhausambulanzen sowie monatelangem Warten auf Termine.

Entspannung ist nicht in Sicht, denn zu allem Überfluss geht auch noch fast jeder zweite Medizinabsolvent ins Ausland, und in den kommenden zehn Jahren wird nicht weniger als ein Drittel der Ärzte in Pension gehen. Aktuell ist es (wieder einmal) die Ärztekammer, die eine Kampagne mit dem Slogan „Ärztemangel kann tödlich enden“ gestartet hat und via Schriftzüge auf Straßenbahnen 300 neue Spitalsärzte für Wien fordert.

Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere sind die schwer widerlegbaren Zahlen der OECD, wonach Österreich die zweithöchste Ärztedichte Europas hat: 5,05 Ärzte pro 1000 Einwohner. Die Ärztekammer negiert diese Zahlen seit jeher mit dem Argument, dass Österreich auch Ärzte in Ausbildung mitrechne, anders als die meisten anderen OECD-Länder. Ein fragwürdiges Argument, denn zum einen ist „Arzt in Ausbildung“ ein dehnbarer Begriff und könnte jede Statistik sprengen, zum anderen würde Österreich selbst ohne diese Ärzte im besseren Mittelfeld landen. In absoluten Zahlen lässt sich ein Ärztemangel also nicht feststellen.

Aber wo kommen dann die Wartezeiten her? Die nicht besetzten Kassenstellen, die überfüllten Ordinationen und Ambulanzen? Die Antwort ist kein Mysterium. Der, nennen wir es, „gefühlte Ärztemangel“ lässt sich einfach erklären: mit der rasant gestiegenen und immer noch steigenden Zahl an Wahlärzten sowie den Systemfehlern in Spitälern.

Während die Zahl der Kassenärzte in den vergangenen 20 Jahren in etwa gleich geblieben ist, hat sich die der Wahlärzte im selben Zeitraum mehr als verdoppelt. Mit der Folge, dass es mittlerweile sogar mehr Wahl- als Kassenärzte gibt. Denn wegen des unattraktiven Honorarkatalogs der Krankenkassen und der zuletzt explodierten Zahl an Privatpatienten sind Kassenverträge für viele Ärzte nicht mehr erstrebenswert – weder finanziell noch hinsichtlich der Work-Life-Balance.

Als Wahlärzte können sie sich ohne Rücksicht auf veraltete Leistungskataloge und einschränkende Fachabgrenzungen viel mehr Zeit für ihre Patienten nehmen. Das bedeutet, dass sie höchstens halb so viele Patienten behandeln wie Kassenärzte. In der OECD-Statistik wird aber kein Unterschied zwischen Kassen- und Wahlärzten gemacht, was die Diskrepanz erklärt. Im niedergelassenen Bereich werden also weniger Patienten von mehr Ärzten behandelt – wodurch die, wie es in der Medizin heißt, Versorgungswirksamkeit sinkt.

In Spitälern wiederum ist das Hauptproblem, dass (vor allem junge) Ärzte immer noch als „Systemerhalter“ missbraucht werden und – anders als in den meisten anderen OECD-Staaten – zu viele bürokratische Aufgaben und Tätigkeiten des Pflegepersonals wie etwa Arztbriefe schreiben, Befunde kopieren, Blut abnehmen, Infusionen anhängen und Blutdruck messen erledigen müssen. Wodurch ihnen weniger Zeit für ihre eigentliche ärztliche Arbeit bleibt und worunter wieder besagte Versorgungswirksamkeit leidet.

Die Zahl der Ärzte zu erhöhen wird also den angeblichen Ärztemangel nicht beheben. Was es braucht, sind umfassende, nachhaltige Reformen wie etwa die Aktualisierung des Leistungskatalogs der Krankenkassen, eine Strukturreform in Spitälern, bessere Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie Forschungsbeteiligungen für Jungärzte, weniger Hürden bei der Gründung von Gruppenpraxen und eine im europäischen Vergleich angemessene Bezahlung.

300 Spitalsärzte mehr, wie es die Ärztekammer fordert, führt höchstens dazu, dass Österreich auf Platz eins der OECD-Studie landet. Und dort jenes Land verdrängt, das bekannt für die ineffizienteste Gesundheitsversorgung Europas ist: Griechenland.