Einsamkeit ist ungesund

Interview mit Prim. Univ.-Prof. DDr. Michael Lehofer

Der renommierte Psychotherapeut, Psychiater und Bestseller Autor ist seit 2017 ärztlicher Direktor des LKH Graz II sowie Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie 1.

 

Herr Professor Lehofer, Sie führen das Corona-Leitspital in der Steiermark. Wie haben Sie das Spital in kürzester Zeit umorganisiert, um Platz zu schaffen?

Ich führe das Spital nicht allein, sondern bin Teil der kollegialen Führung. Wir haben den Change Prozess, der notwendig war, bewusst sehr partizipativ aufgesetzt, und konnten daher von vornherein eine große Veränderungsmotivation gewährleisten.

Gab es immer genügend Betten und Intensivstation-Plätze?

Es gab immer genug Betten, sowohl auf der Normal-, als auch auf der Intensivstation.

Es scheint, die einen Spitäler hatten alle Hände voll zu tun, während den anderen die Hände gebunden waren. Gibt es einen gewaltigen Rückstau von Nicht-Corona-Patienten?

Wir wussten ja nicht, was genau auf uns zukommen wird. Daher mussten relativ viele Kapazitäten geschaffen werden, die letztlich nicht gebraucht wurden, ich sage Gott sei Dank nicht gebraucht wurden. Diese Versorgungsstrukturen standen natürlich nicht zur Versorgung von Patienten zur Verfügung. Daher kam es in unterschiedlichen Ausmaßen zum Rückstau von Patienten, den wir derzeit aufarbeiten.

In Österreich wird seit Jahren über die vergleichsweise große Anzahl an Spitalsbetten diskutiert. Inwiefern wird sich diese Diskussion nach der Corona-Erfahrung verändern?

Das ist eine hochemotionale Diskussion. Es geht nicht nur um das Vorhalten von Betten, sondern vielfach auch um die Bereitstellung von medizinischer Kompetenz, sowohl im ärztlichen als auch im pflegerischen Bereich. Diese Kompetenz kann aber nur gewährleistet sein, wenn das medizinische Personal ständig in adäquater Weise gefordert ist. Es geht also nicht nur um Betten, sondern vor allem um die Bereithaltung von hoch professionell agierenden Strukturen. Dieser Diskussion müssen wir uns weiterhin stellen. Das größte Problem ist sicherlich, auch für die Zukunft motiviertes und professionelles Spitalspersonal zur Verfügung zu haben. Wir haben noch die gründliche Analyse dessen, was wir in der Coronakrise gelernt haben, vor uns.

Wie gut ist das österreichische Gesundheitssystem für das, was uns in Zukunft erwartet, gerüstet?

Ungeachtet des Verbesserungsbedarfs sind wir gut für die Zukunft vorbereitet.

Die Daten zeigen, dass die berühmte „R-Zahl“ sowohl in Österreich, als auch in der Schweiz und in Deutschland schon vor dem Lockdown unter 1 lag. War und ist ein Lockdown dennoch notwendig?

Grundsätzlich können einem Experten besser die Vergangenheit erklären, als die Zukunft prognostizieren. Ich persönlich bin dankbar für die konsequente Vorgangsweise in Österreich. Ansonsten gibt es den schönen Spruch: Hätte, hätte, Fahrradkette.

Wäre es eine gute Möglichkeit gewesen, Risikogruppen zu schützen, während andere weiterarbeiten?

Das halte ich nicht für eine gute Idee. Denn abgesehen von der Diskriminierung hätte eine solche Maßnahme den Ernst der Lage verkleinern lassen.

Was macht Einsamkeit mit Menschen, und besonders mit alten Menschen?

Es stimmt, dass während der Krise viele Menschen einsam waren. Andere die vorher einsam waren, erlebten aber während der Krise einen unerwarteten Zuspruch. Grundsätzlich ist Einsamkeit sehr ungesund, weil Einsamkeit die größte Angst darstellt, die ein Mensch haben kann. Es ist die Angst, alle Bindungen verloren zu haben.

Verschiebt der Lockdown Todesfälle in die Zukunft?

Möglicherweise. Medizintheoretiker weisen immer wieder darauf hin, dass jede medizinische Behandlung Wirkungen und ungewollte Nebenwirkungen aufweist.

Wie empfinden Sie die Verordnungen der Regierung auf das Alltagsleben?

Mir persönlich tun die Menschen leid, die durch die Maßnahmen berechtigte Existenzängste haben. Ansonsten ist ein „Reset“ von Gewohnheiten nicht nur eine schlechte Idee.

Es scheint, je strenger die Maßnahmen, umso populärer die Regierung. Sehnen sich die Menschen in Zeiten von Unsicherheit und Angst nach einer starken Führung und warum?

Schon Kinder blicken in bedrohlichen Situationen zum Gesicht der Eltern, um herauszufinden, ob die Angst berechtigt ist, und allenfalls schnell richtig zu reagieren. Wenn die Bedrohung sich als real herausstellt, flüchten sie in die Arme ihrer Eltern. So sind Menschen.

Kommt jetzt das Zeitalter der Bürokraten?

Ich bin überzeugt, dass die Digitalisierung durch die jüngsten Erfahrungen im positiven Sinn weiterentwickelt wurde. Obwohl man diesbezüglich zahlreiche Nachteile anführen kann, besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Digitalisierung eine Reduktion des Bürokratismus herbeiführen wird.

Viele Menschen bangen um ihre wirtschaftliche Zukunft. Die Frage wird gestellt, wie viel Gesundheit und möglicherweise auch Leben uns der wirtschaftliche Schaden kosten wird. Der Staat hat massive Eingriffe vorgenommen in die Freiheit von Wirtschaft und Eigentum. Wie sind Ihre Gedanken zu Materialismus und Humanismus?

Der Humanismus ist nicht die Summe der mentalen und verhältnismäßigen Reaktionen des Menschen, sondern bezeichnet die Möglichkeit des Menschen über seine animalische Anlage hinaus zu wachsen. Gier und Materialismus sind daher antihumanistische Eigenschaften. Eine gewisse materielle Orientierung ist dem Menschsein immanent, nicht zuletzt sind wir materielle Wesen. Die Verhältnismäßigkeit von gesundheitsfördernden Maßnahmen ist eine Frage die man sich unbedingt stellen muss, wohl wissend, dass es nie eine bestimmte hinreichende Antwort geben wird.

Wird es ein Umdenken zum Thema Globalisierung geben?

Ich glaube es nicht. Obwohl ich glaube, dass wir diesbezüglich übertrieben haben.

Was bedeutet die Corona-Erfahrung für die EU? Wird sie zusammengeschweißt, oder geschwächt?

Meine Prognose ist: Die EU bleibt die, die sie vorher waren. Es gibt schlechte Ehen, die erstaunlich stabil sind.