Freiheitsbeschränkungen bringen psychosoziale Herausforderungen

Interview mit dem in Graz geborenen Mediziner und Psychiater OMR Prim. Prof. Dr. Günter Nebel. Er betreibt seit 1983 Krankenanstalten und Pflegeeinrichtungen in ganz Österreich. Neben seiner Tätigkeit als Eigentümer und Geschäftsführer der Sanlas Holding GmbH ist er auch international als Honorarkonsul von Kasachstan tätig.

 

Herr Primarius Dr. Nebel, der Coronavirus samt aller wirtschaftlichen Folgen stellt uns vor große Herausforderungen. Was wird uns mehr Gesundheit kosten – der Virus oder die wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns?

Eine funktionierende Wirtschaft ist die Voraussetzung für ein funktionierendes Gesundheitssystem. Allerdings steht fest, dass die Gesundheit der Bevölkerung immer über dem wirtschaftlichen Erfolg stehen muss. Fest steht aber auch, dass ein Herunterfahren der Wirtschaft über einen längeren Zeitraum mit entsprechenden Herausforderungen und Problemen für die Gesellschaft einhergeht, welche wiederum psychische, soziale sowie körperliche Gesundheitsfragen mit sich bringen.

Wie beurteilen Sie als renommierter Psychiater die Auswirkungen der erlebten Einsamkeit und Beschränkungen?

Die Situation, welche wir nun erleben, zum Teil auch unabhängig vom Coronavirus, ist eine Einengung unserer gewohnten Lebensweise. Die teilweise tatsächlich erforderlichen Verordnungen und Regelungen geben uns das Gefühl einer Freiheitsveränderung. Und das zieht natürlich eine gesellschaftliche Veränderung nach sich. Der Coronavirus selbst versetzt die Menschen in Sorge, bis hin zu einer tiefen Angst. Wenn ich zurzeit in meinen Garten hinausgehe und den Frühling erwachen sehe, hängt über diesem Erwachen eine Art Melancholie, die in mancher Hinsicht unser ganzes Leben überdeckt. Eine Corona-Melancholie, sozusagen. Natürlich führen Beschränkungen und das Zusammenleben auf beengtem Raum zu neuen Herausforderungen. Je kleiner der Raum ist, in dem man sich bewegen kann, desto mehr Disziplin und Verständnis füreinander ist notwendig. Soziale Spannungen und Aggressionen können sich entwickeln. Man muss lernen, auch auf kleinem Raum, wenn auch nur auf wenigen Quadratmetern, sein persönliches „Ich“ wiederzufinden. Wichtig ist vor allem, dass man ehrlich ausspricht, was einem am anderen stört, um so eine Lösung oder dementsprechendes Arrangement zu finden. Bei kleineren Kindern ist es schon etwas schwieriger auf Verständnis zu stoßen, hier ist viel Disziplin gefordert.

War es Ihrer Meinung nach sinnvoll, die Kinder – überspitzt formuliert – wegzusperren, obwohl sie ohnehin kaum anfällig sind?

Leider lässt es sich bei Kindern noch nicht ganz genau sagen, wie anfällig diese tatsächlich sind und, ob hier Vorerkrankungen zu berücksichtigen sind. Die Frage, welche man sich stellen musste, war welches Risiko man eingehen möchte und welche potentielle Gefahr die Bedrohung durch Corona tatsächlich mit sich bringt. Bislang waren viele Kinder und Jugendliche kaum betroffen, aber auch bei vielen älteren Menschen scheint die Erkrankung fast spurlos vorüber zu gehen. Andere Patienten wiederum erleben die Krankheit ähnlich einer schweren Grippe, wobei man keine genauen Vergleiche ziehen kann. Dann gibt es noch diejenigen, welche durch Corona in ihrer Lebenssituation ernsthaft bedroht sind.

War es also klug, Kindergärten und Schulen zu schließen?

Man muss die Situation von Beginn an betrachten. Am Anfang haben wir alle erstaunt nach China gesehen und uns gewundert, was da los ist. Da dachten wir noch, China ist weit weg und dabei haben wir vollkommen übersehen, dass der Virus unmittelbar bei uns im Heraneilen war. In China hat man aufgrund der Organisationsform des Staates rigoros durchgegriffen. Das heißt, viele Schicksale von erkrankten Menschen wurden nicht weiter erörtert, später einmal sollte man sich darüber Gedanken machen. Erst dann hat man bei uns begonnen, diese virologische Herausforderung ernst zu nehmen und das gesellschaftliche System wurde relativ rasch heruntergefahren. Man hat erkannt, dass es wichtig ist, soziale Kontakte zu vermeiden und Risikogruppen zu schützen. Weil sich bei Kindern gewisse Maßnahmen, wie das Einhalten von Abstandsregeln, nicht effektiv durchsetzen lassen, hat man sich entschlossen, Kindergärten und Schulen zu schließen. Im Grund war unser schnelles Handeln zunächst richtig, aber im Nachhinein tut man sich immer leicht, überzogene Maßnahmen kritisch zu betrachten.

Die Zahlen des Robert Koch Instituts zeigen, dass bereits zwei Tage vor dem Lockdown der Reproduktionsfaktor unter 1 lag.

Wir haben diese berühmten Zahlen und Statistiken, die wir heranziehen – in Deutschland streitet man sich gerade, ob der relevante Faktor bei 0,9 oder 1,1 liegt – und sehen, dass auch Äußerungen des Robert Koch Instituts mitunter verwirrend und widersprüchlich waren, beispielsweise was die Verwendung von Schutzmasken betrifft. Was wirklich zählt ist, dass der Reproduktionsfaktor weiter sinkt. Zunächst einmal wurden alle notwendigen Maßnahmen getroffen, um die Verbreitung des Virus aus der Sicht der damaligen Zeit einzudämmen – jetzt sind wir ja schon wieder um drei Wochen klüger, und in drei Wochen werden wir noch mehr wissen. Aus damaliger Sicht war es jedenfalls eine gut denkbare Möglichkeit, dass so gehandelt wurde, wie man es gemacht hat. So sieht zum Beispiel oft nach Schweden, wo man einen anderen Weg gewählt hat. Allerdings hat Schweden eine andere Raumstruktur, neben den Städten gibt es dort sehr aufgelockerte periphere Lebensräume. Man hat hier verstärkt an den Verstand der Bevölkerung appelliert. Trotzdem scheint es dort aber relativ mehr Tote zu geben. Wobei sich aus den bekannt gemachten Daten nicht eindeutig erkennen lässt, ob es sich bei den Verstorbenen um „normale Todesfälle“ oder „Corona Todesfälle“ handelt.

Auf der Statistik Seite EuroMOMO kann man die Übersterblichkeit in ganz Europa betrachten.

Man wird diese Zahlen noch untersuchen müssen. Auch im vielzitierten Italien, ist es so, dass wir nicht genau wissen, ob viele ältere Leute, die in dieser Zeit gestorben sind, nicht ohnehin in einem gewissen absehbaren Zeitraum verstorben wären. Ich möchte keinesfalls, dass das zynisch klingt, aber es ist notwendig die Situation statistisch genau zu betrachten, wer jedenfalls gestorben wäre, wer „MIT“ Corona gestorben ist und wer „AN“ Corona gestorben ist.

Daher sind Obduktionen wohl sehr wichtig.

Natürlich, ja. Insbesondere die Hinterfragung der folgenden Sachverhalte erachte ich als wichtig: Warum sind diese Menschen gestorben? Wie funktioniert der Coronavirus? Welche Genetik hat er, wie verbreitet er sich und welche Angriffspunkte hat er? Wie verläuft die Infektion, was ist mit der Oberflächenstruktur, wie lange bleibt der Virus haften, bei welchen Temperaturen etc.

Wird sich kulturell etwas ändern, ist das bislang obligate Händeschütteln nun abgeschafft?

Das könnte sein. Man denke an die Engländer, die traditionell keine Hände schütteln. Das kann sowohl eine Frage der Hygiene als auch eine der sozialen Kontakte sein. Oder man denke zum Beispiel an die Pest. Damals hatten die Menschen keine Ahnung, warum sie erkrankt sind. Heute wissen wir zwar mehr, aber dennoch sind wir in manchen Lebenslagen fast hilflos. Wir sind mit einer neuen Situation konfrontiert worden, die sich so vorher niemand vorstellen konnte.

Ist die Debatte über zu viele Spitalsbetten hinfällig?

Nein. Es muss allerdings zwischen den Debatten über unser Gesundheitssystem, die es vor der Corona Krise gab und die teilweise zu Recht bestanden haben, und die Corona-beeinflussten Nachdebatten, welche im virologischen Bereich anzusiedeln sind, unterschieden werden. Viele Menschen konnten durch verstärkte Hygienemaßnahmen und die Vermeidung von sozialen Kontakten die Corona-Welle unbeschadet überstehen. Natürlich hatten manche Betroffene schwerere Symptome und bedurften eines Spitalsaufenthaltes, zum Teil mit Beatmungsgeräten. Nicht jeder dieser Patienten benötigte jedoch ein hochklassiges Intensivbett, sondern eine ausreichende Beatmung war wesentlich. Erst im Grenzbereich der Existenzfrage benötigten wenige eine Intensivbetreuung.

Das heißt, es geht vor allem um die Frage, wie man die verbleibenden Betten besser ausrüsten kann?

Darum geht es und vor allem um die Frage: wie dynamisch ist unser Gesundheitssystem? Und auch um die Frage, welche Erziehungsmaßnahmen können wir vorsorglich hinsichtlich unserer Gesundheit setzen? Man muss bereits in den Kindergärten und Schulen beginnen. Wir benötigen eine Erziehung zur Gesundheit und müssen ein Bewusstsein für Vorsorge schaffen. Hier denke ich beispielsweise an das Thema Uteruskarzinom, welches man durch Vorsorgemaßnahmen relativ gut in den Griff bekommen kann.

Kann unser Gesundheitssystem in seiner derzeitigen Struktur und Kompetenzaufteilung zwischen Bund, Ländern und diversen Kassen so dynamisch gestaltet werden, wie wir es brauchen?

Wir haben ein festgelegtes System mit verschiedenen Kostenträgern und Einrichtungen, die insgesamt ähnlich agieren. Jeder soll unabhängig seiner finanziellen bzw. wirtschaftlichen Lage eine ausreichende Gesundheitsversorgung erhalten. So wie unsere Gesundheitseinrichtungen derzeit strukturiert sind, kosten sie aber viel Geld. Darüber hinaus stellt uns die älter werdende Gesellschaft vor neue Herausforderungen. In der Corona-Epidemie hat man leider gesehen, welche Auswirkungen und moralisches Dilemma so etwas mit sich bringen kann. Sowohl in Frankreich, als auch in Italien gab es zu viele Covid-19-Patienten und zu wenige medizinische Versorgungsmöglichkeiten, was zu einer hässlichen Triage mit einer Euthanasie Regelung führte. Es wird nochmal zu bedenken sein, was hier passiert ist: Wir haben in unserer Zeit tatsächlich zugelassen, dass man ältere Menschen mit Schmerz- und Schlafmittel sowie einem Rauschgift entschlafen lässt. Das Triagieren stammt ursprünglich aus der Militärmedizin. Wir befinden uns momentan nicht in Kriegszeiten, haben aber gesehen, wie schnell man wieder in Grenzlagen kommen kann.

Wie konnte es so weit kommen?

Man hat anfangs wohl zu wenig bedacht, dass jeder der ein Krankenhaus betritt, eine große Gefahr darstellt. Das betrifft nicht nur erkrankte Patienten, sondern auch Mitarbeiter und Besucher. Diese Personen tragen quasi unbeabsichtigt den Virus in eine Corona-freie Zone hinein. Darüber hinaus hatte man zunächst nicht ausreichende Möglichkeiten für eine Corona-Testung und deren Bedeutung wurde unterschätzt.

In den Häusern der Sanlas Gruppe wurde sicherlich sofort mit höchstem Sicherheitsmaßstab gehandelt.

Natürlich. Der Schutz und die Sicherheit unserer Patienten, Pflegeheimbewohner und Mitarbeiter war und ist unsere oberste Priorität. Aufgrund der Verordnungen des Gesundheitsministeriums ist aber zum Beispiel folgendes Problem aufgetaucht: Ich wollte für alle Mitarbeiter präventiv eine Covid-19-Testung durchführen lassen, was aber gemäß dem Epidemiegesetz dazu führt, dass jede getestete Person in einem zentralen Register als Verdachtsfall eingestuft wird. Das finde ich nicht in Ordnung, dass man sich, wenn man sich freiwillig testen lässt, auf einmal in einer ominösen Kartei wiederfindet. Überwachung kann vieles erleichtern, aber in erster Linie auch eine Bedrohung unserer individuellen Existenz darstellen. Natürlich könnten wir alle eine Uhr tragen, die unseren Herzschlag aufnimmt, den Blutdruck misst, etc. Jeder könnte so seine Gesundheitsparameter und Kontakte kontrollieren, aber irgendwann ist eine Grenze erreicht. Wenn diese Daten ungesichert in einer zentralen Überwachungsstruktur landen, stellt das eine enorme Gefahr dar. Hier werden noch viele Herausforderungen auf uns zukommen. Auf der einen Seite gibt es einen Virus, der unsere Gesundheit massiv gefährdet, auf der anderen Seite müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit wir zum Wohle der Gesundheit unserer Bevölkerung mit persönlichen Daten umgehen.

Brauchen wir eine Impfpflicht?

Sagen wir so, es könnte sein, dass wir in einigen Bereichen mit dem Thema Impfen zu nachlässig umgegangen sind. Grundsätzlich empfinde ich Impfungen als etwas Wesentliches und wünsche mir vor allem von Eltern und Erziehungsberechtigten ein erhöhtes Verständnis für die Wichtigkeit von Impfungen. Inwieweit man eine Impfvorsorge empfiehlt oder erzwingt, muss man diskutieren.

Also Aufklärung statt Pflicht.

Es bedarf hier vor allem einer guten Aufklärung, sodass den Menschen die Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit von Schutzimpfungen bewusst ist. Überspitzt formuliert könnte ein Impfgegner auch sagen, dass er gegen Verkehrsregeln ist. Und wenn jeder nur dann über die Straße geht, wenn kein Auto kommt, braucht man auch keine Regeln, oder? In dem Moment jedoch, wo man Regeln einführt, muss man sich auch die Frage stellen, was sind die Grenzen einer Reglementierung. Im Übrigen gilt dasselbe meines Erachtens auch für die Corona-Verordnungen. Vor jeder Art von Reglementierung sollte man zuallererst jedoch an den gesunden Menschenverstand appellieren. Jeder einzelne sollte eine gewisse Verantwortung für sich selbst und seine Gesundheit tragen.

Wird sich die Globalisierung verändern?

Ich kann mir vorstellen, dass wir jetzt alle ein bisschen über diese Entwicklungen nachdenken. Man kann aber mit Sicherheit sagen, dass eine autonome Versorgung in bestimmten Bereichen unabdingbar ist.

In welchen Bereichen sollten wir uns zu einem hohen Grad selbst versorgen können?

Im Gesundheitswesen muss eine neue Vorsorgepolitik entwickelt werden. Es ist notwendig ausreichend Schutz- und Hygieneartikel sowie Medikamente zu lagern. Manche Menschen ziehen derzeit Vergleiche zur Nachkriegszeit, das finde ich aber nicht richtig. Die Nachkriegszeit hat damals eine viel bedrohlichere Situation dargestellt, die Sorge des Überlebens war eine ganz andere. Dennoch muss sich der Staat zukünftig für Notfälle einrichten und für Lagervorräte sorgen.

Sollte die Politik nun vorwiegend in Anreize für Unternehmen investieren, damit sie in Österreich oder zumindest in Europa Medikamente und Schutzausrüstung produzieren?

Das wäre eine Idee. Wir müssen jedenfalls unabhängiger in Bezug auf Logistik und Transport werden, damit eine ausreichende Eigenversorgung für bestimmte lebensnotwendige Dinge sichergestellt ist. Wir müssen aber auch lernen, was es für unsere Gesellschaft heißt, wenn sie über strenge Verordnungen verwaltet wird, welche in Notzeiten maßgeblich unsere Freiheit einschränken, so wir es trotz unserer demokratischen Staatsform derzeit spürbar erleben. Damit sollte sich eine Arbeitsgruppe befassen. Welche sozialpsychiatrischen Auswirkungen haben Beschränkungen und eingeengte Systeme auf unsere Bevölkerung? Welche Ängste entwickeln sich? Vor allem die Frage in Hinsicht auf die Beschäftigung bzw. den Mangel an Beschäftigung muss bedacht werden. Wenn die unmittelbare Gefahr durch den Coronavirus gebannt ist, wird die nächste Sorge die Erhaltung der Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Entwicklung sein. Noch vor einem Jahr haben sich alle mit dem Thema Burnout befasst. Darüber wird nun nicht mehr gesprochen, jetzt geht es um psychosoziale Herausforderungen durch eingeengte Strukturen.

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft?

Folgendes Gedankenspiel: Es muss uns gelingen, diese Krisensituation als erlebtes Geschehnis zu betrachten und die damit verbundenen Emotionen soweit wie möglich hintanzustellen, sodass man die größtmöglichen Lehren aus dieser Erfahrung ziehen kann. Anschließend muss an die „Vor-Corona-Zeit“ angeknüpft werden, wobei uns bewusst sein muss, dass wir auch zu dieser Zeit schon vor wirtschaftlichen Herausforderungen standen. Von diesem Standpunkt aus sollte man für sich selbst und die Gesellschaft eine geläuterte Zukunftsperspektive erarbeiten. In diesem Sinne kann ich mir vorstellen, dass man die verursachten Kosten von möglicherweise 100 Milliarden Euro, verteilt auf die nächsten 20 Jahre, bewältigen kann. Wenn aber die bereits heruntergefahrene Wirtschaft durch machtpolitisches Handeln missbraucht wird, um Profite zu schlagen, beispielsweise aufgrund von internationalen Beteiligungen oder gar Übernahmen, wird das sicher zu gesellschaftspolitischen Konfrontationen führen. Deshalb sollten wir unbedingt die Chance nutzen, diese Krise positiv zu bewältigen und neue gesellschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen.