Die Schlange beim Bäcker und die Hydra der öffentlichen Moral

Der Vorsitzende der FDP, Christian Lindner baute in seine Rede am Parteitag am letzten Wochenende eine symbolische Anekdote ein, auf die ihn ein Bekannter gebracht hatte: „Wir werden qualifizierte Einwanderung brauchen und dafür müssen wir ein weltoffenes Land bleiben. Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hochqualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter Ausländer. Damit die Gesellschaft befriedet ist, müssen die anderen, die in der Reihe stehen, damit sie nicht diesen Einen schief anschauen und Angst vor ihm haben, müssen sich alle sicher sein, dass jeder, der sich bei uns aufhält, sich legal bei uns aufhält. Die Menschen müssen sich sicher sein, auch wenn jemand anders aussieht und noch nur gebrochen deutsch spricht, dass es keine Zweifel an seiner Rechtschaffenheit gibt. Das ist die Aufgabe einer fordernden, liberalen, rechtsstaatlichen Einwanderungspolitik.“

Na und? möchte man fragen. Das war ziemlich verklausuliert formuliert und dem Gedankengang ist nicht leicht zu folgen, aber mit einiger Mühe kann man sich zusammenreimen, was er gemeint  hat; er denkt sich das halt so und sagt es. Sehr mitreißend kann es auf den Parteitag ohnehin nicht gewirkt haben. Damit sollte die Sache eigentlich erledigt sein.

Aber nein, keine Rede davon: Wir sind in Deutschland, dem Land des ewigen schlechten Gewissens, das jedermann für die Untaten der Urgroßväter empfinden muss; dem Land der politischen Korrektheit als unfehlbarer Zivilreligion, der masochistischen Suche nach Opfern von „Alltagsrassimus“ und nach „Ausgegrenzten“, kurz: einer kaum noch erträglichen Übermoral im öffentlichen Diskurs.

Deshalb lösten Lindners Sätze eine hysterische Aufregung  aus. Irgendjemand Halbwichtiger trat aus der FDP aus, ein Leitartikler identifizierte sich mit dem angeblich scheel angeschauten Menschen in der Schlange und beschrieb sich kokett und wohlwissend, dass ihm das natürlich nicht passieren kann, als potentielles Opfer. Ein anderer forderte Lindner auf, zuzugeben, dass er sich „vergaloppiert“ habe. Man kann das alles nicht mehr hören.

Da nützte es nichts mehr, dass FDP-Generalsekretärin Nicola Beer ausrücken musste, um zu erklären, was gemeint war: Es gehe gerade darum, gut integrierte Einwanderer zu schützen. «Momentan erleben Migranten, die schon lange unter uns leben, die perfekt integriert sind, dass ihnen Misstrauen entgegengebracht wird, weil die Bevölkerung nicht mehr sicher sein kann, dass alle, die ins Land kommen einen legalen Aufenthaltstitel haben.» Beer betonte, ihre Partei setze auf die Durchsetzungsfähigkeit des Rechtsstaats. «Wir brauchen faire und transparente Regeln, die gibt es im Einwanderungsrecht momentan nicht.»

Also: Ein Sturm im Wasserglas. Lindner wird es überstehen, in einer Woche redet kein Mensch mehr davon. Stimmt alles, aber eben auch nicht. Der Zustand einer derart deformierten Öffentlichkeit hat nämlich Folgen: Man kann über kein Problem der Massenimigration, von Integrationsverweigerung, Parallelgesellschaften und kriminellen Immigranten-Milieus mehr vernünftig reden. Jede einzelne Abschiebung wird zu einer Welt-Tragödie; Fakten gehen in einer Beschönigungs- und Verharmlosungsrhetorik unter: niemand darf mehr anders ausschauen, niemand darf mehr schlecht deutsch können; niemand darf mehr für Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen werden, weil ja immer schlechten Umstände schuld sind. Die Tage können nicht mehr fern sein, an denen die Leute sagen: Wir haben genug davon.