Totalüberwachung ist für mich ein Horrorszenario!

Interview mit OMR Prim. Prof. Dr. Günter Nebel. Er betreibt seit 1983 Krankenanstalten und Pflegeeinrichtungen in Österreich.

 

Herr Primarius Nebel, welche medizinischen Einrichtungen zählen zur SANLAS Gruppe?

Insgesamt zählen 12 Gesundheitseinrichtungen und 2 Hotels zur Sanlas Holding. In der Steiermark führen wir Pflegeeinrichtungen mit der speziellen Form der psychiatrischen Betreuung und Pflege, sowie der Altenpflege. Darüber hinaus betreiben wir in Graz die Privatklinik Leech, die sowohl auf Akutmedizin, als auch auf Augenheilkunde spezialisiert ist. Als Belegspital mit angeschlossenem Med Center kooperieren wir hier mit vielen Fachärzten. Auf der Lassnitzhöhe zählen wir eine Rehabilitationsklinik für Orthopädie und Neurologie zu unseren Einrichtungen und in St. Radegund sowie in Hollenburg (NÖ) jeweils eine Rehabilitationsklinik für Psychiatrie. Dazu gibt es noch in Bruck an der Mur eine Ambulanz für Psychiatrie, Onkologie und Neurologie. Zuletzt haben wir auf der Lassnitzhöhe die Schwarzlklinik erworben, die auf plastische Chirurgie spezialisiert ist.

Sie sind bekannt für Ihre besondere Orientierung am Bedürfnis der Patienten und verzeichnen vor allem in den letzten Jahren starkes Wachstum.

Ja, wir haben heute zirka 1.100 Mitarbeiter und wachsen immer noch. Die Privatklinik Lassnitzhöhe wird gerade um 64 Zimmer sowie den großzügig dazugehörigen therapeutischen Raumstrukturen erweitert. Einen Schwerpunkt werden wir hier auf traditionelle chinesische Medizin legen – in Zusammenarbeit mit einer chinesischen Universitätsklinik. Derartige Ansätze gibt es in Österreich bereits, wir möchten allerdings speziell die Bereiche Akupunktur und Akupressur, sowie traditionelle chinesische Massagetechniken hervorheben.

Wie sieht es aus mit dem Personal? Bekommen Sie die Mitarbeiter, die Sie brauchen?

Grundsätzlich lebt ein Betrieb von seinen Mitarbeitern, weshalb es wichtig ist, Verständnis aufzubringen, in ihre Ausbildung zu investieren und ihre Stärken zu fördern. Das liegt sowohl im Interesse der Mitarbeiter, als auch im Interesse des Unternehmens. Im Bereich der Medizin und Pflege ist es uns ein wichtiges Anliegen, einen guten Kontakt zu Schulen und Ausbildungsinstitutionen zu pflegen, da wir hier von sogenannten „Mangelberufen“ sprechen. An dieser Stelle erlaube ich mir, an unsere Politik zu appellieren, da sich die aktuelle Arbeitsmarktsituation bereits zugespitzt hat. Nicht nur, dass es in Österreich bereits jetzt viel zu wenige Ärzte und Pflegekräfte gibt, wir spüren auch eine vermehrte Nationenkonkurrenz. Vor allem Betriebe aus Deutschland und der Schweiz sind bemüht, gut qualifizierte Mitarbeiter abzuwerben. Umgekehrt beschäftigen auch wir Personal aus dem benachbarten Ausland, wo ebenfalls ein Bedarf besteht. Hier wird es zeitnah notwendig sein, adäquate Maßnahmen zu ergreifen.

Ist angesichts des Pflegekräftemangels deren „Überakademisierung“ sinnvoll? Heute muss eine Pflegekraft ein Masterstudium absolvieren, das zwei Jahre länger dauert als früher.

Es muss uns bewusst sein, welch einen hohen Stellenwert die Pflege heutzutage für uns alle hat. Ähnliches gilt auch für den Bereich der Sozialarbeit, und der damit verbundenen Frage der verantwortungsvollen Re-Integration in bestehende gesellschaftliche Strukturen. Es braucht in der Pflege nicht nur gut ausgebildete Fachleute, sondern auch Mitarbeiter, die aus einer inneren Motivation heraus, sich gerne um ihre Mitmenschen kümmern. Wir sind hier mit einem zentralen Versorgungsthema der künftigen Generationen konfrontiert, und es liegt in unserer Verantwortung schon bei Jugendlichen das Bewusstsein und Interesse zu erwecken, diesen Beruf ergreifen zu wollen.

Ich habe lange in Kanada gelebt, wo man in der Highschool nur ein Zeugnis bekommt, wenn man im Jahr eine bestimmte Anzahl von Sozialarbeitsstunden geleistet hat.

Ein schöner Ansatz. Es bedarf hier jedenfalls eines neuen Bewusstseins, zumal es unterschiedlichste Anforderungen im Bereich der fachlichen Qualifikationen gibt, sodass dafür auch passende Ausbildungsmöglichkeiten erarbeitet werden sollten. Der großen Bedeutung des Pflegeberufes muss jedenfalls Rechnung getragen werden. Früher einmal wäre das wohl eine Fach-Matura gewesen, heute unterstreichen wir die Wertigkeit des Berufes in Form eines Bachelor- oder Masterstudiums. Anerkennung ist ein wesentlicher Bestandteil, aber es ist sicher nicht sinnvoll, am Beruf Interessierte in Richtung Masterstudium zu drängen. Fakt ist, dass wir den Anforderungen einer alternden Gesellschaft gerecht werden müssen und man sich Gedanken machen muss, wie Versorgungsdienstleistungen künftig abgedeckt werden.

Wird Künstliche Intelligenz in der Pflege künftig eine wichtige Rolle spielen?

In der Diagnostik und der Medizin gewinnt künstliche Intelligenz immer mehr an Bedeutung. Wir werden in Zukunft nicht nur Zugriff auf das Basiswissen und die Erfahrungen auf internationaler Ebene haben, sondern auch bei organisatorischen Problemstellungen kann Digitalisierung eine deutliche Hilfe sein. Ältere Menschen können sich so die Welt zu sich nach Hause holen. Sei es als Mittel der Kommunikation oder einfach als Möglichkeit, sich in der Gesellschaft integriert zu fühlen. Was es braucht, ist beispielsweise die nächste Generation eines sprachgesteuerten Handys, da kleine Tasten und feinsensorische Bewegungen für ältere Menschen eine Belastung darstellen können. Man wird sich künftig über Apps an Dienstleistungen bedienen, an die wir heute vielleicht noch gar nicht denken. Das kann einerseits arbeitskräftesparend sein, andererseits gibt es auch hier ernst zu nehmende Überlegungen. Man denke nur an das Thema Datenschutz, oder was mit sensiblen Gesundheitsdaten passieren kann, wenn ein IT System kollabiert, ganz zu schweigen von potentiellen Hacker-Angriffen. Interessante Entwicklungen gibt es auch im Bereich der Gesichtserkennung. Eine visuelle Schmerzerkennung könnte vom System erfasst werden und bei Bedarf Alarm auslösen. Aber auch hier muss man beide Seiten der Medaille betrachten. Im positiven Sinne kann schnell auf einen Notfall reagiert werden, andererseits geht man hier einen großen Schritt in Richtung totaler Überwachung. Besonders wenn weitere medizinische Parameter wie Blutdruck, Körpertemperatur, Herzschlag und Hautfeuchtigkeit erfasst werden. All das könnte mittels neuer Technologien permanent überwacht werden.

Sie haben keine Smartwatch, die alle Gesundheitsdaten überwacht?

Nein, habe ich nicht. Ich stehe dieser Entwicklung skeptisch gegenüber, denn es geht hier um sehr persönliche Daten und um einen verantwortungsvollen Umgang damit. Dass internationale Nachrichtendienste und Konzerne laufend Datenmissbrauch betreiben ist bekannt, gleichzeitig ergeben sich neue Formen der Kriminalität. Hier muss man sehr achtsam sein, denn gesundheitsbezogene Daten könnten zum Beispiel auch beim Thema Arbeitssuche eine gewichtige Rolle spielen.

Daten und Datenschutz ist eine große Herausforderung, aber auch die Finanzierung. Wie soll Ihrer Meinung nach Pflege künftig finanziert werden?

Das ist tatsächlich eine gewaltige Herausforderung, alleine durch die Tatsache, dass wir im Schnitt alle älter werden. Aber die Frage der Finanzierung betrifft nicht nur die Pflege älterer Menschen, sondern alle Altersgruppen, wenn etwa eine Krankheit oder ein Unfall zu einem Pflegebedarf führt. Das Thema muss wirtschaftlich klar erfasst werden. So sollte das Gesundheitssystem wirtschaftlich geführt und ein optimaler Dienstleister für die Gesellschaft sein, die das ja auch mit ihrem Steueraufkommen bezahlt. Die Frage ist, in wie weit ist jeder von uns bereit für sein Alter eine Vorsorge zu treffen, z.B. wie eine Art Wohnbauansparung?

Also eine steuerliche Begünstigung für das Ansparen eines Pflegekontos?

Richtig. Eine andere Frage ist, ob man eine private Pflegeversicherung, die sich bisher nicht großer Beliebtheit erfreut hat, wieder als Versicherungsfaktor etabliert. Solche Modelle gab es, wurden aber aufgrund der Kostenstruktur der Sozialversicherungsträger nicht gefördert. Für unsere Gesellschaft heißt das: Wie viel Geld können wir uns für diese Zukunftsthemen leisten und wie viel muss jeder für sich selbst vorsorgen? Und wenn jemand nicht vorgesorgt hat, wie wird das aus dem Sozialbudget finanziert?

Könnte man nicht für alle eine Pflichtversicherung einführen?

Man könnte als Basis zumindest eine Zusatzversicherung einführen, die auch schon diskutiert aber wieder verworfen wurde. Das wäre meine Philosophie: Wenn man rechtzeitig anfängt zu sparen, hat man etwas im Alter.

Gegen das freiwillige Modell der Pflegeversicherung spricht, dass dann eigentlich jene bevorzugt werden, die sich nichts angespart haben.

Dieses Eintreten in eine soziale Partnerschaft ist nun einmal ein Faktum. Da müsste man viele Grenzbereiche hinterfragen, denn es werden oft Leistungen von der Allgemeinheit für einen Einzelnen erbracht und individuell verursachte Kosten abgedeckt. Es würde meiner Meinung nach zu weit gehen, das Verhalten jedes einzelnen individuell zu bewerten, es kann aber gut sein, dass das einmal so weit kommen wird. Man wird nicht nur dein Einkaufs-, Koch- und Essverhalten sondern überhaupt deinen Lebensstil beobachten und dann für deine Versicherungsleistungen heranziehen. Führst du ein gesundes Leben, zahlst du weniger Beitrag. Das entspricht zwar nicht ganz meiner sozialen Einstellung, aber ist natürlich machbar. Wenn wir eines Tages alles mit unserem Mobiltelefon bezahlen, weiß man ohnehin alles über unsere Einkäufe sowie Vitalparameter, bis hin zur Schlussfolgerung welcher Chronizität an Erkrankungen man statistisch entgegenläuft. Das wäre eine dramatische Entwicklung.

Also nicht unrealistisch wird ein Bonus- Malus-System mit Totalüberwachung.

Genau. Ich sehe das als zukünftig machbar, aber lehne das moralisch ab. Das System der Totalüberwachung und damit Totalsteuerung ist für mich ein Horrorszenario.

Bleiben wir also lieber bei der Freiheit. Apropos Freiheit. Viele hier ausgebildete Ärzte nutzen ihre Freiheit, um nach der Uni ins Ausland zu gehen, wo sie besser verdienen.

Dahingehend werden wir zwei Dinge verändern müssen: Erstens müssen wir die Angebote für unsere Mitarbeiter, die hier arbeiten, deutlich attraktiver gestalten. Und zweitens müssen wir uns Gedanken über das Thema „Frauen als Arbeitnehmerinnen im medizinischen Bereich“ machen. Zum Beispiel wenn Frauen Mütter werden, haben sie ihre eigenen Vorstellungen zu Arbeitszeiten und Kinderbetreuung ist auch ein wichtiger Faktor. Wir haben heute schon mehr Medizinstudentinnen als Studenten, die nicht immer, aber oft ein bisschen andere Lebens- und Arbeitsvorstellungen haben als früher. Deshalb benötigen wir flexiblere Arbeitszeiten, Teilzeitangebote und bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Da werden wir als Unternehmer unseren Mitarbeitern und vor allem unseren Mitarbeiterinnen bestimmte soziale Angebote eröffnen müssen, damit sie eine Arbeitsstelle als attraktiv empfinden. Hier sehe ich die große Herausforderung, denn damit sind natürlich wieder Kosten verbunden, welche sich folglich wiederum auf die Konsumenten dieser Dienstleistungen übertragen. Aber auch fürs Golfspielen gibt man Geld aus, oder für einen bestimmten Lifestyle. Meiner Meinung ist die Erhaltung der Gesundheit noch immer die beste Investition, die man überhaupt tätigen kann. Das muss jedem bewusst sein. Unabhängig davon brauchen wir ein Gesundheitsdenken an sich und bessere Information, um nicht zu sagen Erziehung. Das sollte bei unseren Kindern anfangen, bis hin zu den Erwachsenen, damit jeder verstehen kann, wie er die Parameter seines Lebensstils im Sinne seiner eigenen Gesundheit verändern kann.

Soll der Staat also eine Art Zuckersteuer einführen?

Sagen wir so, in jedem einzelnen von uns kann durch entsprechendes Wissen und Information ein Gesundheitsbewusstsein geschaffen werden.

Also ein Schulfach „Ernährung und Gesundheit“?

Ich würde das erweitern um das Verständnis füreinander – das psychodynamische Verständnis füreinander.

Also das Schulfach heißt „Gesellschaft und Gesundheit“.

Richtig. So sollte es heißen. Und dies sollte man mindestens genauso wichtig nehmen, wie die Verkehrsregeln. Eine Erziehung in Richtung gesundes Leben. Die Miteinbeziehung der Genetik spielt auch eine wesentliche Rolle, denn wir alle haben gewisse genetische Faktoren, die uns später im Leben bestimmen. Die Genetik ist relevant für Prädispositionen für die eine oder andere Krankheit, wo man dann schon möglicherweise frühzeitig und gezielt mit gesunder Ernährung und Bewegung gegensteuern kann. Grundsätzlich müssen wir uns mehr auf Prävention konzentrieren, so wie das eigentlich schon in der Frauenheilkunde weitreichend gemacht wird. Beim Mann setzt man derzeit leider erst viel später an. Wir müssen schon frühzeitig darauf achten, wie es unseren Zellen als Minimalorganisationsformen in unserem Körper ergeht. Wie reflektiert sich das im Gesamtbild eines Menschen? Hier wird man noch viele weitere und tiefere Erfahrungen gewinnen, welche dann beim Thema Vorsorge berücksichtigt werden müssen. Insgesamt müssen wir uns aber auch bemühen, ein in der Kostenentwicklung steuerbares System zu finden, denn Gesundheit wird künftig ohnehin mehr kosten.

Ihre Wünsche an die Politik sind also, dass es für österreichische Ärzte attraktiv gemacht wird, in Österreich zu bleiben und, dass es mehr Information und Bildung in Sachen Gesellschaft, Zusammenhalt und Gesundheit gibt?

Das Wichtigste ist: Wir müssen die Problematik des Älterwerdens ernst nehmen. Das reine Wissen aus Statistiken reicht nicht aus, sondern es muss die Erkenntnis geben, das rasche Überlegungen, rasches Handeln und auch eine rasche Entwicklung von gesetzlichen Rahmenbedingungen erforderlich sind. In der Gesundheitsbildung müssen wir so früh wie möglich, also schon bei unseren Kindern beginnen. Zusammenfassend möchte ich sagen: Wir benötigen zukünftig ein Topsystem, das unsere Gesellschaft bestmöglich versorgt und zwar auf der einen Seite die ältere Generation mit ihren neuen Bedürfnissen und auf der anderen Seite die Jüngeren mit ihren Wünschen.